Semper Geschichte/n

Wer war der Regisseur des »Rosenkavalier«?

Zum 160. Geburtstag von Georg Toller

Gleich zwei Uraufführungen von Richard Strauss hat er an der Semperoper inszeniert: Georg Toller (1862-1939), der am 24. März 2022 seinen 160. Geburtstag begehen würde, stand als Regisseur sowohl bei »Elektra« als auch bei »Der Rosenkavalier« auf dem Besetzungszettel. Von 1906 bis 1927 war er als Spielleiter, dann als Oberspielleiter an der Dresdner Oper engagiert. »Georg Toller hat künstlerisch gearbeitet in der Zeit, als aus dem bloßen Ausstatten und Arrangieren von Opern ganz allgemein eine wirkliche Opernregie entstand«, heißt es im Nachruf auf den Theatermann vom 14. Juni 1939 im Dresdener Anzeiger. Und schaut man sich Tollers Werdegang etwas genauer an, dann zeigt sich, dass er von den Entwicklungen dieser Zeit ganz unmittelbar betroffen war – und dass die Frage, wer denn nun der Regisseur des »Rosenkavalier« war, gar nicht so einfach zu beantworten ist.  

Ein Theaterleben um 1900

Als Toller sein Amt 1906 antrat, existierte der Beruf des Regisseurs im Grunde noch nicht. Ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts waren die Darsteller*innen selbst dafür verantwortlich, ihre Bühnendarstellung wirkungsvoll zu gestalten. Das Arrangieren der Chöre, die Koordination der Auftritte und die Organisation der Proben wurde von fest angestellten Spielleitern übernommen, die meist ehemalige Sänger oder Schauspieler waren. 

Auch Georg Toller hatte zunächst selbst auf der Bühne gestanden. Der 1862 in Leipzig geborene Sohn eines Kunstmalers begann zunächst eine Lehre als Buchhändler und nahm nebenher Gesangsstunden. Bald begann er eine Karriere als Sänger mit der damals typischen Tour durch die Provinz: Wismar, Altenburg, Stettin, Sondershausen und Rostock waren seine Stationen. Mit über 40 Jahren, möglicherweise wegen stimmlicher Probleme, wechselte Toller auf die Position hinter der Bühne, zunächst in Nürnberg und ab 1906 Dresden. An der damaligen Sächsischen Hofoper gab er mit Eugen d’Alberts ein Jahr zuvor uraufgeführter Komischen Oper »Flauto solo« seinen Einstand als Spielleiter, gleich gefolgt von Carl Maria von Webers »Oberon« und der Uraufführung von Max von Schillings’ »Moloch«. 

Operngeschichte schrieb Toller zwei Jahre später, als er die Uraufführung von Richard Strauss »Elektra« inszenierte. Ein Szenenfoto dieser Aufführung zeigt den antikisierenden Stil der Aufführung. Richard Strauss scheint mit der Aufführung zufrieden gewesen zu sein. In den Uraufführungskritiken allerdings wird – und das zeigt, welch geringen Stellenwert der Opernregie in dieser Zeit zugemessen wurde – der Name Tollers kaum einmal erwähnt. Dass sich gerade in diesen Jahren der Beruf des Regisseurs von einem Handwerk zu einer Kunst entwickelte, sollte Georg Toller bei der folgenden Strauss-Uraufführung »Der Rosenkavalier« zwei Jahre später auf für ihn sicher peinvolle Weise erleben.

Regieführen wird zur Kunst

Am 24. März 1909 hatten Richard Strauss und sein Textdichter Hugo von Hofmannsthal die Wiener Erstaufführung von «Elektra« gesehen und waren begeistert von der Ausstattung von Alfred Roller. Roller war 1903 von Gustav Mahler an die Wiener Hofoper geholt worden und hatte als Ausstatter des Dirigenten-Regisseurs Mahler einen neuen Stil der Operndarstellung entwickelt, bei dem Werk und Inszenierung eine stilistische Einheit bildeten. »Jedes Kunstwerk trägt das Gesetz seiner Inszenierung in sich«, so das künstlerische Credo Rollers. Für «Der Rosenkavalier« erhofften sich Strauss und Hofmannsthal eine ganze neue, schauspielerische Art der Regie, die sie dem bewährten Georg Toller kaum zutrauten. Dieser, so Strauss in einem Brief an Hofmannsthal vom 8. Oktober 1910 sei »nur ein gewöhnlicher Opern-Normalregisseur und kaum imstande (…), ein solches Lustspiel zu inszenieren.« Doch Hofmannsthal hatte ohnehin andere Pläne: Nach seinem Willen sollten den Theatern, die »Der Rosenkavalier« aufführten, die Bühnenbilder und Kostüme Alfred Rollers als fester Bestandteil des Werkes vorgeschrieben werden. Maßgeblich für die Regie sollte an allen Theatern ein von ihm selbst und Roller erstelltes Muster-Regiebuch sein, »an dessen Hand der trottelhafteste Provinzopernregisseur eigentlich kaum eine Stellung oder Nuance verfehlen kann«, so Hofmannsthal. 

Tatsächlich druckte Strauss’ Verlag das Regiebuch wie auch die Bühnenbild- und Kostümentwürfe, die bis heute vielfach abgebildet wurden. Der Theaterpraktiker Strauss wusste jedoch besser als sein Librettist, dass lebendiges Theaterspiel nicht entsteht, wenn Sängerinnen und Sänger die Pfade eines noch so detaillierten Regiebuches nachschreiten. Er drängte deshalb darauf, den Regisseur Max Reinhardt für den »Rosenkavalier« zu engagieren. Reinhardt war spätestens seit seiner »Sommernachtstraum«-Inszenierung 1905 im Deutschen Theater in Berlin der berühmteste Regisseur Deutschlands und hatte gerade Hofmannsthals Bearbeitung des »König Ödipus« als Massentheater-Spektakel herausgebracht. Doch einen derart profilierten Schauspielregisseur an ein Opernhaus zu engagieren, war ein völlig unüblicher Vorgang. Zudem gab es ja mit Toller in Dresden einen »bewährten« Spielleiter, den Strauss aus der Arbeit an »Elektra« gut kannte. Toller selbst erfuhr von diesen Plänen erst aus der Zeitung – was dem Generalmusikdirektor Ernst von Schuch äußerst unangenehm war, beim Komponisten Strauss, der die Meldung offenbar lanciert hatte, aber nur ein Schulterzucken hervorrief: »Das Bessere ist nun mal des Guten Feind«. Strauss sah sich als ein Künstler, der »wenn es sich um Interessen der Kunst handelt, auch nicht einmal daran denkt, dass hierbei Privatinteressen collidieren könnten«. Und überhaupt, so fährt der Komponist scheinheilig fort, könne er sich, »gar nicht vorstellen, dass ein so intelligenter Mann wie Toller sich der Beihilfe eines Reinhardts nicht aufrichtig freuen könnte.« Ob der auf diese Weise öffentlich düpierte Toller diese Sichtweise geteilt hat, ist nicht überliefert.

Am Ende war Strauss ohnehin auf Tollers Mitarbeit angewiesen. Der Oberspielleiter leitete anhand von Rollers Regiebuch eine Woche lang die szenischen Proben, bevor in der zweiten Woche Hofmannsthal und Roller dazukamen. Max Reinhardt, vor dem man nach den Worten von Strauss »in Dresden höllische Angst hat«, sollte lediglich als eine Art »Schattenregisseur« die Proben beobachten und den Sänger*innen höchstens unter vier Augen am Rande der Proben Regieanweisungen erteilen. So befremdlich diese Probensituation (und die aus heutiger Sicht äußerst knappe Probenzeit von nur zwei Wochen) auch war: Die »Rosenkavalier«-Uraufführung war nicht zuletzt ein Erfolg der Inszenierung. So bemerkte der Kritiker des Anzeigers, dass die Oper »an Stelle des üblichen Darstellungsstils der Oper eine vollendete Schauspielkunst und äußerste Charakterisierungsfähigkeit« fordere. Speziell die ungewohnte Komödiantik des Darstellers des Ochs, Carl Perron, der normalerweise als Wotan oder Holländer zu sehen war, wurde hier gelobt. Da die Mitarbeit Max Reinhardts nicht auf dem Theaterzettel vermerkt war, heißt es in der Kritik nur lapidar: »Für die Regie zeichnete Georg Toller verantwortlich.« Das Gruppenfoto mit allen Verantwortlichen der »Rosenkavalier«-Uraufführung zeigt Georg Toller angespannt zur Seite blickend, als würde er sich nicht so recht wohl in dieser Runde fühlen. 

Der Regisseur Georg Toller wurde 1913 zum Oberspielleiter der Dresdener Oper ernannt und blieb bis zu seiner Pensionierung 1927 in dieser Position. In den 1920er Jahren erscheint der Name des Regisseurs regelmäßig in den Zeitungskritiken, auch wenn die Kritiker die Regieleistung selten so genau beschreiben wie die der Sänger*innen. In einer Besprechung des »Rienzi« (1919) heißt es etwa, Toller habe der Oper gegeben »was unsere Zeit an Belebung der Massen auf der Szene verlangt«, sicher ein Hinweis auf eine an dem damals populären Massentheater geschulte Chorführung. Auch das Lob für szenische Belebung bei der Neuinszenierung von Mozarts »Idomeneo« deutet auf eine Personenregie im modernen Sinne hin. Georg Tollers letzte Inszenierung war ausgerechnet wieder ein Werk von Richard Strauss: »Ariadne auf Naxos«, das Fritz Busch dirigierte. Im Alter von 77 Jahren starb Toller 1939 in Hellerau. »Ein reiches, ganz und gar vom Theater erfülltes Leben!«, schrieben die Dresdener Neuesten Nachrichten in seinem Nachruf. 

Die Semper Geschichte erschien am 24. März 2022. Autor: Kai Weßler (Dramaturg)