Semper Geschichte/n

Sängerinnenkrieg am Königlichen Hoftheater zu Dresden

Eine Semper Geschichte anlässlich des 75. Todestages von Annie Krull

Annie Krulls Karriere an der Hofoper kulminierte darin, dass sie mit nur 33 Jahren ausgewählt wurde, in der Uraufführung von Richard Strauss’ »Elektra« die Titelpartie zu singen. Hinter ihrem mustergültigen Sängerinnenlebenslauf verbirgt sich eine lebendige Geschichte – eine Geschichte, die nicht allein von großen Erfolgen, sondern auch von rauen Tönen unter Sopranistinnen und jeder Menge Primadonnen-Stolz handelt. Aber von Beginn an …

Verantwortlich dafür, dass Annie Krull an die Hofoper engagiert wurde, ist der damalige Intendant Nikolaus Graf von Seebach. Er hörte die junge Sängerin 1901 an der Königlichen Hofoper Berlin und holte sie im selben Jahr noch nach Dresden, wo es nicht lange dauerte, bis sich eine regelrechte Serie von Erfolgen einstellte. So übernahm Annie Krull bereits in ihrem ersten Jahr an der Elbe die weibliche Hauptrolle in der Uraufführung von Igancy Jan Paderewskis »Manru«, die sie »mit wunderbarer, reiner, poetischer Stimme« (Dresdner Kunst- und Theaterzeitung, 02.06.1901) sang. Nur wenige Monate danach wurde ihr die Partie der Diemut in der Uraufführung von Richard Strauss’ »Feuersnot« angeboten. Wieder reüssierte Krull mit einer »darstellerisch und gesanglich ganz hervorragende[n] Leistung […]« (Dresdner Anzeiger, 23.09.1901) und errang damit einen der wichtigsten Erfolge ihrer Karriere. Denn besagte Uraufführung war nicht nur der Grundstein für eine beachtliche Reihe Strauss’scher Opernerfolge in Dresden; mit ihr nahm auch der Aufstieg Annie Krulls zu einer Strauss-Interpretin, die sich bis nach Wien und London einen Namen machen sollte, seinen Lauf.

Als Richard Strauss dann im Sommer 1905 die Arbeiten an seiner »Salome« beendete, war für ihn klar, dass die Titelrolle bei der Premiere am 9. Dezember von keiner anderen als Annie Krull gesungen werden sollte. Doch er hatte die Rechnung ohne die damals an den Opernhäusern gängigen Gepflogenheiten gemacht: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es üblich, dass die Titelpartien an die erste Sängerin des Hauses vergeben wurden, so denn diese es wünschte – und erste Sängerin war in diesem Falle nicht Annie Krull, sondern Marie Wittich, die schon seit 1889 an der Hofoper wirkte und sich mittlerweile einen Kultstatus beim Publikum ersungen hatte. Letztere beanspruchte die Rolle der Salome für sich, und so musste sich selbst der große Komponist dem Willen der Sängerin beugen. 

Dabei war Wittich verglichen mit Krull denkbar schlecht für die Rolle geeignet: Zum einen war die Grande Dame des Hauses rund 30 Jahre älter als ihre Konkurrentin, was bei der Verkörperung der sechzehnjährigen Prinzessin alles andere als von Vorteil war. Zum anderen war die mit einem Dresdner Stadtrat verheiratete Wittich so von bürgerlichen Moralvorstellungen und Konventionen eingenommen, dass sie sich mit der skandalträchtigen Rollenkonzeption nur schwer arrangieren konnte, verlangte diese doch Unsittlichkeiten wie einen Striptease vor dem Stiefvater oder die Zurschaustellung von sexuellem Verlangen nach einem abgeschlagenen Kopf. »Das tue ich nicht, ich bin eine anständige Frau«, mit solchen Äußerungen soll sich Wittich den Anweisungen des ihr zufolge auf »Perversität und Ruchlosigkeit« abzielenden Regisseurs widersetzt haben. So musste etwa im Tanz der sieben Schleier ein Double für sie einspringen. Als Annie Krull die Rolle am 5. Mai 1906 erstmals übernahm, meisterte sie diese bravourös. Nicht ohne Grund ging sie in Jansas Lexikon »Deutsche Tonkünstler in Wort und Bild« von 1911 als »die alleinige Vertreterin der Salome der Dresdner Hofoper« ein.

Nachdem Annie Krull in Strauss’ Skandaloper gesanglich und darstellerisch die Rolle ihres Lebens gegeben hatte, stand es – Wittichs Stellung als erste Dame des Hauses hin oder her – für den Komponisten gar nicht zur Debatte, wer 1909 bei der Premiere seiner neuen Oper »Elektra« die Titelpartie singen sollte. Dieses Mal wurde seinem Willen entsprochen, und Wittich, die im selben Jahr ihr zwanzigjähriges Bühnenjubiläum an der Hofoper feierte, musste zurückstecken. Dass die großen Erfolgsgeschichten des Hauses nun von einer anderen geschrieben werden sollten, war mit Wittichs Primadonnen-Stolz nur schwer vereinbar. Reibereien waren also vorprogrammiert, zumal beide bei der anstehenden Produktion von Richard Wagners »Die Walküre« zusammen auf der Bühne stehen mussten. 

Charles Webber, damals Korrepetitor an der Hofoper, erinnert sich an eine Probe, in der Krull die Sieglinde sang und Wittich die Brünnhilde gab: »An der Stelle, als Sieglinde sich auf die Knie werfen und Brünnhilde anflehen sollte, sie um des ungeborenen Kindes willen zu retten, tat sie nichts dergleichen. Ich hörte wie Brünnhilde sie anherrschte: ›Du musst vor mir knien!‹. Die andere antwortete erbittert: ›Vor dir knien? Ich? Niemals!‹. Doch was war der Grund für diese unwürdige Szene? Es war ›Elektra‹. Wir studierten zu dieser Zeit gerade Richard Strauss’ Oper ein und Wittich war verletzt, da Krull für die Partie der Elektra ausgewählt worden war. […] Es kam zum Streit.« 

Dass die erste Elektra goldrichtig ausgewählt worden war, war spätestens nach der Uraufführung am 25. Januar 1909 nicht mehr zu bestreiten. Denn anders als Marie Wittich, die sich einst gegen die Verkörperung der Salome gesträubt hatte, ging Annie Krull in der Rollenkonzeption der Elektra vollkommen auf. Einen Eindruck davon vermitteln die Werbefotografien der Produktion. Üblicherweise stellten solche Aufnahmen die erste Dame in dramatischer Pose und im ansehnlichen Kostüm dar. Strauss’ neue Primadonna präsentierte sich anders: Krull ist in Sackleinen, mit zerzaustem Haar und aufgerissenen schwarzen Augen abgelichtet; ihr Ausdruck ist gleichermaßen wild und verstört.

Ihre Aufopferung für die Rolle wurde Krull in der Presse überschwänglich gedankt. Von einer »Frau Annie Krull, die eine durch Ausdruckswahrheit überzeugende Elektra schuf« und sich durch diese »in jeder Beziehung auf der Höhe stehende Elektra einen Weltruf [sicherte]« (Dresdner Nachrichten, 26.01.1909), war zu lesen. Ebenso wurde ihr »eine Talentprobe in Vollendung« attestiert, denn »in darstellerischer, deklamatorischer und musikalischer Hinsicht erschöpfte sie das krankhafte Wesen dieses Charakters bis zur Glaubwürdigkeit«. (Illustrirte Zeitung, 28.01.1909) 

Als Annie Krull ihre Laufbahn beendete, um am Hoftheater Schwerin als Gesangslehrerin zu wirken, lag eine große Karriere hinter ihr. An nahezu jedem großen deutschen Opernhaus hatte sie Erfolge gefeiert, doch in die Geschichtsbücher ging Marie Wittichs große Rivalin als Richard Strauss’ erste Elektra ein. 

Die Semper Geschichte erschien am 14. Juni 2022. Autor: Axel Paulußen