Semper Geschichte/n

Historische Einspielung neu erschienen: »Carmen« aus der Semperoper

Es sind phonographische Schätze aus der Semperoper, die die Edition Günter Hänssler seit 2010 neu herausbringt. Die jüngste Veröffentlichung der digital aufbereiteten und ausführlich kommentierten Aufnahmen ist ein Mitschnitt von Georges Bizets »Carmen« aus dem Jahr 1942 unter der Leitung des damaligen Generalmusikdirektors Karl Böhm. Die Aufnahme ist nicht nur ein Dokument der Interpretationsgeschichte, sondern veranschaulicht auch die innovative Aufnahmetechnik mitten in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. 

Als die Rundfunkanstalten ab 1921 begannen, ganze Opern im neuen Medium des Radios zu übertragen, entflammte eine lebhafte Debatte: Kann Oper ohne den Blick auf die Bühne überhaupt funktionieren? Eignet sich jede Oper als »Sendespiel«? Entschädigt die Freude, gemeinsam mit Tausenden von Menschen in verschiedenen Städten eine weit entfernte Aufführung zu hören, für die anfangs noch mangelhafte Tonqualität? Und: Halten die Sänger*innen den Ansprüchen der Hörer*innen auch dann stand, wenn sie nur mit der Stimme, nicht aber als Bühnendarsteller wahrgenommen werden? 

Die Dresdner »Carmen«-Aufnahme ist vor diesem Hintergrund eine Pionierleistung. Denn erst kurz zuvor war mit dem neu entwickelten AEG-Magnetophon ein technisches Mittel geschaffen worden, das die Aufnahmetechnik auf ein ganz neues Niveau hob und das in kurzer Zeit von allen Rundfunkanstalten eingeführt wurde. Mit den neuartigen Magnetbändern konnten die Tonmeister bis zu 22 Minuten Musik am Stück aufnehmen statt wie bisher mit Schallplatten nur etwa drei Minuten. Neben dem lästigen Plattenwechsel entfiel mit dem Magnetband auch das störende Kratzen der Platte, das bisher stets mit über den Äther gegangen war. Natürlich suchten die Tonmeister schnell nach Möglichkeiten, die Vorzüge der neuen Technik zum Glänzen zu bringen: Die Dresdner »Carmen«-Aufnahme ist ein Ergebnis davon.

Doch nicht nur die Tonqualität der Aufnahme ist historisch außergewöhnlich, auch die Art der Raumausnutzung zeugt von dem Können und dem Einfallsreichtum der Toningenieure. Mit Hilfe der bereits in den 1930er Jahren eingeführten, rauscharmen Neumann-Kondensatormikrophone (auch »Rundfunk-Flaschen« genannt) wurde der Raumklang der Semperoper bestens eingefangen. Gerade »Carmen« mit ihren Trompetensignalen aus der Ferne, dem Aufmarsch der Garde, Don Josés Lied aus der Ferne und nicht zuletzt der Raumwirkung von Stierkampf und Mord in der Schlussszene ist eine dankbare Oper für einen Tonmeister, der zeigen will, was technisch möglich ist. Dem Zuhörer eröffnete sich ein Klangerlebnis, das er bisher nicht kannte: Das Radio bot erstmal einen akustischen Ersatz für den Theaterbesuch – und das in einer Zeit, in der in ganz Deutschland die Vorstellungen immer wieder wegen Fliegeralarm unterbrochen werden mussten. 

Aber wie wurde musiziert bei dieser »Carmen«-Aufführung im Jahr 1942? Keine Frage, die Semperoper mit ihrem damaligen Generalmusikdirektor Karl Böhm war schon damals ein Garant für hohe musikalische Qualität, auch wenn Böhms Spezialgebiet eher die Werke von Mozart, Wagner und Strauss waren. 1938 hatte mit »Daphne« unter Böhms Leitung die bisher letzte Uraufführung einer Strauss-Oper stattgefunden. Karl Böhm war ein Jahr nach der Amtsenthebung Fritz Buschs durch die Nationalsozialisten 1933 nach Dresden gekommen und blieb auf diesem Posten bis zu seiner Berufung an die Wiener Staatsoper 1943. »Carmen« hat Böhm zwar auch später noch häufig dirigiert, die Oper jedoch kein weiteres Mal aufgenommen.

Die Aufnahme dokumentiert eindrucksvoll, auf welch hohem Niveau an der Semperoper in dieser Zeit gesungen wurde – und zwar mit Sänger*innen des eigenen Ensembles. Gesungen wurde auf deutsch, mit durchweg hoher Textverständlichkeit und großer Gestaltungskraft. Man spürt, dass eine Sängerin wie Elisabeth Höngen in der Titelpartie, von Karl Böhm als »größte Tragödien der Welt« gepriesen, auch Rollen wie die Amme in »Die Frau ohne Schatten« oder Klytämnestra in »Elektra« sang: Deklamation und Gesang bilden hier eine Einheit. Auch der Tenor Torsten Ralf als Don José wurde an der Semperoper zu dieser Zeit als Heldentenor universell eingesetzt und sang sowohl Florestan, Tannhäuser und Lohengrin als auch Radames oder Othello. Hört man den Mitschnitt im Vergleich mit neueren Aufnahmen, dann spürt man, dass »Carmen« hier weniger aus dem Geist der französischen Opéra-comique heraus musiziert, sondern vielmehr als echte Tragödie verstanden wird. Doch auch wenn das spanische Kolorit unter dem Dirigat von Karl Böhm immer ein bisschen volkstümlich deutsch klingt – der Wucht und dem Sog, den er mit dem Ensemble der Semperoper erzeugt, kann man sich auch fast 80 Jahre nach dem Aufnahmedatum nicht entziehen. Und vielleicht zeigt sich gerade darin das Geheimnis, warum »Carmen« das Publikum bis heute so begeistert. 

Die Semper Geschichte erschien im Juni 2022. Autor: Kai Weßler (Dramaturg)