Ballett

Die Tempeltänzerin / La Bayadère

Aaron S. Watkin

Ballett in zwei Akten von Aaron S. Watkin nach Marius Petipa

Premiere 30. November 2008

Musik von Ludwig Minkus

Stück-Info

Der Titel dieses Ballettes wurde im Frankreich des 19. Jahrhunderts geprägt und entsprang dem eurozentristischen Blick auf ›orientalische‹ Tempeltänzerinnen. Der Begriff der ›bayadère‹ unterschied jedoch nicht zwischen Tänzerinnen, die im Sinne der Unterhaltungskunst auftraten, und Devadasis (Gottesdienerinnen). Aufgrund der Ansiedlung der Handlung im ›exotischen‹ Sujet, seines dramaturgischen Aufbaus sowie des opulent konzipierten und technisch vielseitigen Bühnenzaubers, gilt das von Marius Petipa und Ludwig Minkus kreierte Handlungsballett »Die Tempeltänzerin/La Bayadère« (1877), als ein ›grand spectacle‹: Dem Geiste der Romantik verpflichtet, erzählt es die märchenhaft-tragische Liebesgeschichte zwischen der Tempeltänzerin Nikjia, die – entgegen ihren religiösen Verpflichtungen – ihr Herz dem Krieger Solor geschenkt hat, der jedoch einer anderen Frau versprochen ist, so dass das Paar nur in einer parallelen Traumwelt zueinander finden kann.

Handlung

1. AKT
Vor einem Tempel

Solor, ein reicher und berühmter Krieger, möchte dem mächtigen Radscha des Landes einen Tiger schenken und sendet seinen engsten Gefährten Ekavir mit seinen Kriegern auf die Jagd. Alleingelassen bittet er den Fakir Madhavan um ein Treffen mit der Tempeltänzerin Nikija. Sie werden durch die Ankunft des Hohen Brahmanen Kanj unterbrochen, der Madhavan aufträgt, die Zeremonien zu Ehren des Heiligen Feuers vorzubereiten. Die Devadasis erscheinen, unter ihnen auch Nikija, die sittlichste der Tempeltänzerinnen. Kanj ist schon längst von ihrer Schönheit überwältigt und gesteht ihr seine Liebe. Allerdings weist sie ihn – im Bewusstsein ihrer göttlichen Pflichten – ab, was Kanj zutiefst kränkt. Madhavan gelingt es indes, Nikija Solors Nachricht zu überbringen und sie stimmt einem Treffen mit dem Krieger zu. Vor dem Heiligen Feuer schwören sich Nikja und Solor ewige Liebe. Kanj, der das Paar heimlich beobachtet hat, sinnt aus Eifersucht auf Rache.

Im Palast
Mit großen Festlichkeiten geben Radscha und Rani Dugmanta die bevorstehende Hochzeit zwischen ihrer Tochter Hamsatti und Solor bekannt. Kanj erscheint unerwartet und berichtet dem Radscha vom Liebesschwur zwischen Solor der Bayadère Nikija. Außer sich vor Wut befiehlt der Herrscher jedoch nicht, wie von Kanj beabsichtigt, Solors Tod: Stattdessen soll Nikija sterben, um die Hochzeit der seit Kindertagen Versprochenen nicht zu gefährden. Hamsatti, die der Unterredung heimlich lauscht, schickt nach Nikija. Mit kostbaren Juwelengeschenken versucht sie die Sympathie der Tänzerin zu gewinnen – vergebens. Daraufhin konfrontiert Hamsatti die Nikija mit der bevorstehenden Hochzeit. Halb wahnsinnig über das soeben Gehörte, stürzt sich die Bayadère mit einem Dolch auf Hamsatti, aber flieht letztlich in tiefem Entsetzen über ihre Tat. Fest entschlossen schwört Hamsatti, Nikijas Leben ein Ende zu setzen.

Die Verlobungszeremonie von Hamsatti und Solor
Feierlich wird die Verlobung von Hamsatti und Solor im Garten des Palastes begangen. Kanj bringt Nikija, damit sie auf der Feier tanze. Sie glaubt jedoch fest an Solors Liebe und bringt ihre tiefe Traurigkeit in ihrem Tanz zum Ausdruck. Ein, angeblich von Solor gesendeter, Blumenkorb wird der auf Versöhnung hoffenden Nikija überreicht. Doch der Korb birgt ein verhängnisvolles Geheimnis: eine Giftschlange, deren Biss die Tempeltänzerin tötet. Kanj bietet schnell ein Gegengift. Doch Solor beachtet Nikija nicht und verlässt das Fest. Also entscheidet sie sich für den Tod.

2. AKT
Solors Gemächer

Solor ist außer sich vor Schmerz über den Tod Nikijas. Er betäubt sich mit Opium, um sein Leid tragen zu können.

Das Königreich der Schatten
In einer Vision begegnet er seiner Geliebten tausendfach im Königreich der Schatten. Seine Liebe zu Nikija ist stärker denn je. Ein Tanz mit ihr erweckt die Erinnerung an seinen Schwur vor dem Heiligen Feuer.

Solors Gemächer
Als Solor aus seiner Trance erwacht, sind die Hochzeitsvorbereitungen nicht mehr aufzuhalten. Sein Freund Ekavir mahnt zur Eile. Doch Solors Gedanken sind nur bei Nikija und er wohnt den Vorbereitungen nur zerstreut bei. Hamsatti, der Solors Zustand nicht entgangen ist, versucht ihn zu besänftigen, damit die Eheschließung wie geplant stattfinde.

Das Hochzeitsritual vor dem Tempel
Die Brahmanen richten alles für das Hochzeitsritual. Zu Ehren der Götter tanzt ein goldenes Idol. Doch Solor kann sich von seinen Gedanken an Nikija nicht lösen. Immer wieder erscheint ihm ihre Gestalt und verzögert die Zeremonie. Wie von Geisterhand taucht der todbringende Blumenkorb Nikijas auf und stiftet Entsetzen. Mit Gewalt versucht Kanj, die Heirat zu vollenden. Doch der Zorn der Götter über den Tod der Tempeltänzerin macht dem Menschenwerk ein Ende: Aus dem zerstörten Tempel entkommt niemand lebend.

Apotheose
Nikijas Seele vergibt und umhüllt diejenige Solors mit ihrer ganzen Liebe. Für immer vereint ziehen sie ins Nirvana.

Werkeinführung

Mitte des 19. Jahrhunderts  ̶  in der Blütezeit der Romantik in Ballett, Literatur, Musik und bildender Kunst  ̶  zog der österreichische Komponist Ludwig Minkus nach Russland, wo er am Kaiserlichen Theater in St. Petersburg gemeinsam mit dem Choreographen Marius Petipa über 15 Ballette kreierte, u.a. »La Bayadère« (1877). Inspiriert von Reisetagebüchern oder Erzählungen  ̶  die allerdings auch dazu beitrugen, dass in Europa ein realitätsfernes Traum-Bild von geografisch fernen Orten wie Indien, als Land ›exotisch-erotischer Fantasien‹, gezeichnet wurde  ̶  entstanden damals viele Ballette, die das Motiv der ›sinnlichen Tempeltänzerin‹ behandelten. Weshalb »Die Tempeltänzerin/La Bayadère« dennoch zu einem nachhaltigen und bewahrenswerten Kulturgut wurde und wie Ballettdirektor Aaron S. Watkin dieses Werk für sich in der Tanztradition von Marius Petipa wiederentdeckte, erläutert Ballettdramaturgin Regina Genée.

Portraitzeichnung der Ballett-Dramaturgin Regina Genée
Regina Genée, Ballett-Dramaturgin; Zeichnung Semperoper

Ballettmusik

Zur Ballettmusik im 19. Jahrhundert

Ballettmusik des 19. Jahrhunderts besitzt heute im Allgemeinen ein recht negatives Image, das vor allem aus dem Anlegen falscher Maßstäbe an sie resultiert: Mit der Verklärung des Komponisten zum Genie im späten 19. Jahrhundert wurden ästhetische Kriterien aufgestellt und angewendet, die der Wirklichkeit der Komponisten im frühen und mittleren 19. Jahrhundert, übrigens auch der der Opernkomponisten, und ihrer Einbindung in den Theaterproduktionsprozess nicht entsprechen. Insbesondere zwei Charakteristika der Ballettmusik des 19. Jahrhunderts konnten diesen neuen ästhetischen Ansprüchen nicht standhalten: Zum einen – und damit teilt sie das Schicksal von Filmmusik – die Zweckgebundenheit, und zum anderen – zumindest für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts – der Mangel an Originalität. Für die meisten Komponisten des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts war Ballettmusik eher eine Gelegenheit, bekannt zu werden und dadurch möglicherweise einen Auftrag für eine prestigeträchtige Oper zu erhalten, als dass sie ihr eine große künstlerische Bedeutung zumaßen. Die Musik wurde vor allem als Dienerin des Tanzes angesehen, mit dem sie nicht um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlen sollte. Daher brachten die Komponisten in sie nur eine begrenzte Kreativität ein, zumal sie sich im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts in ihren Ballettpartituren zunächst vorwiegend als Arrangeure bereits existierender und bekannter Melodien und Musikstücke betätigten. Entsprechend finden sich auf den Programmzetteln dieser Zeit auch oft nur Hinweise wie »Die Musik ist von verschiedenen Meistern« oder »Die Musik ist komponiert und arrangiert von...«.

Mit dieser Praxis, bekannte Melodien aus Opern im Ballett zu verwenden, halfen die Komponisten dem Publikum, die Handlung der oft langen pantomimischen Passagen eines Balletts nachzuvollziehen: Frei nach dem Motto »Erkennen Sie die Melodie?« wurden Melodien – »Airs parlants«, also »sprechende Melodien« genannt – aus Opern an den Stellen der Balletthandlung zitiert, an denen die ihnen zugehörigen Worte inhaltlich passten. Ferdinand Hérold z.B. benutzte 1828 für »La fille mal gardée« u.a. Rossinis Sturmmusik aus »La Cenerentola« für eine entsprechende Szene im Ballett sowie den Eröffnungschor aus dessen »Barbier« (»Piano, pianissimo«) bei Lises Auftritt auf Zehenspitzen, die ihre Mutter nicht wecken will. Um 1830 setzte jedoch langsam ein ästhetischer Wandel ein und von den Komponisten wurde mehr kompositorische Originalität erwartet. Um auch ohne »Airs parlants« – die ja, um den gewünschten Effekt zu haben, eine intime Kenntnis der Opernliteratur seitens des Publikums voraussetzten – das Verständnis des Inhalts musikalisch zu unterstützen, bauten die Komponisten Erinnerungsmotive an exponierten Stellen der Handlung ein und wiederholten sie in inhaltlich passenden Momenten. Somit sorgten sie auch für einen größeren musikalischen Zusammenhalt der Partitur. Das prominenteste Beispiel für dieses neue Verfahren ist sicherlich Adolphe Adams »Giselle« (1841), wenn auch Jacques François Fromental Halévys Ballett »Manon Lescaut« (1830) als erstes Werk gilt, in dem diese Erinnerungsmelodien (neben den »Airs parlants«) Anwendung finden. Doch diese kompositorische »Hilfestellung« für das Publikum erreichte nie die gleiche Deutlichkeit wie die »Airs parlants«; in der Jahrhundertmitte begannen die Komponisten dann allmählich, sich von solchen Vorgaben, den Inhalt zu erhellen, zu lösen und musikalisch freier zu arbeiten.

Der sicherlich dominierende Choreograf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Marius Petipa, seit 1862 Ballettmeister und später Erster Ballettmeister der Kaiserlichen Theater in Sankt Petersburg. Er arbeitet dort vor allem mit zwei Komponisten zusammen: dem ungeheuer produktiven Cesare Pugni (1802–1870), dessen Musik heute noch gelegentlich bei Ballett-Galas erklingt, und dessen Nachfolger als angestellter Ballettkomponist Ludwig Minkus (1826–1917), dem Schöpfer von Balletten wie »Don Quichote« (1869) und »La Bayadère« (1877). Die Komposition der Musik für die oft großangelegten Ballette erforderte nun, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein Spezialistentum, in dem sich handwerkliches kompositorisches Können und überbordende musikalische Kreativität mit genauer Kenntnis der tänzerischen und choreografischen Abläufe paarten. 

Der Komponist war in den täglichen Probenprozess im Ballettsaal eng eingebunden und musste nicht nur den Vorstellungen des Ballettmeisters und seinem genau geplanten Ablauf des Balletts folgen, sondern er musste auch fähig sein, seine Musik während der Proben immer wieder zu revidieren und neue Wünsche und Änderungen zu berücksichtigen. Zudem musste die Musik den verschiedenen Teilen eines Balletts entsprechen und so mit kleinteiligem, gestischem Charakter die pantomimischen Passagen lebendig machen, rhythmisch und melodisch die zum Teil großangelegten Solo- und Gruppentänze stützen und insgesamt die Atmosphäre der Bilder evozieren helfen. Wenn auch die Musik der Minkus’schen Ballette in der Orchestrierung eine vielleicht aus Minkus’ eigener Biografie als Violinist begründeten Vorliebe für Geigen zeigt sowie im Rhythmus eine Präferenz des Dreivierteltakts, so zeichnet sich Minkus’ Ballettmusik insgesamt durch eine großartige Fülle von Melodien und einen rhythmischen Schwung aus, der, wie der Ballettspezialist und -dirigent John Lanchbery anmerkte, auch manch einen unbeholfenen Zuschauer den unbedingten Wunsch verspüren lasse zu tanzen.

Als der Direktor der Kaiserlichen Theater Iwan Wsewoloschkij 1886 den Posten des angestellten Ballettkomponisten abschaffte, setzt er ein deutliches Zeichen. Komponisten wie Pjotr I. Tschaikowsky und Alexander Glasunow verliehen in ihren Kompositionen für das Ballett der Musik eine neue musikalische Qualität und brachten ein stärkeres künstlerisches Gewicht der Komponisten in die Zusammenarbeit mit den Choreografen ein, was nur wenige Jahrzehnte später durch Sergej Diaghilew und seine Ballets Russes in eine Emanzipation der Ballettmusik mündete: Der russische Impresario vergab Kompositionsaufträge unter der Prämisse der Gleichberechtigung der Künste, arbeitete mit der Avantgarde der Komponisten zusammen (Ravel, Debussy, de Falla, Poulenc, Milhaud, Prokofjew, Strawinsky u.a.) und gewährte ihnen große Freiheiten. Komponist und Choreograf wurden gleichberechtigte Partner – die Ballettmusik war in der Moderne angekommen.

Der Text von Frank-Rüdiger Berger stammt aus dem Programmheft »La Bayadère«.
www.frberger.de

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