Oper

Siegfried

Richard Wagner

Zweiter Tag des Bühnenfestspiels »Der Ring des Nibelungen« Libretto vom Komponisten

Premiere 23. März 2003

In deutscher Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

Stück-Info

Siegfried, der Sohn der in »Die Walküre« geretteten Sieglinde und des getöteten Siegmund, wächst am Rande der Welt bei Alberichs Bruder Mime auf. Mime hofft, dass Siegfried für ihn den machtvollen Rings erkämpft. Doch der unwissende Siegfried wendet sich gegen den Ziehvater, und nachdem er dem getöteten Riesen Fafner den Ring abgenommen hat, erschlägt er auch Mime. Geleitet von einem Waldvogel, erweckt er die schlafende Brünnhilde. Jetzt könnten die beiden Wotans Götterwelt retten – wenn die Liebe nicht stärker wäre als politische Vernunft. »Siegfried« ist der theatralischste Teil von Wagners Tetralogie »Der Ring des Nibelungen«. Regisseur Willy Decker schuf daher seinen Dresdner Bühnenkosmos als Theater auf dem Theater. Wer sich allerdings auf der Bühne zur Schau stellt und wer den Beobachterposten einnimmt, bleibt dabei stets in der Schwebe – bis sich das Spiel ganz von der Bühne löst und auf den Zuschauer zuzulaufen scheint.

Handlung

Erster Aufzug
Wotans Plan, die Weltordnung nach dem Raub des Rheingoldes wieder herzustellen, scheint gescheitert. Einsam durchstreift er als Wanderer die Welt. Nur noch vereinzelt taucht er auf, um an den entscheidenden Stellen die Fäden zu ziehen und seine Macht spüren zu lassen. Mime, Alberichs Bruder, bereitet er Alpträume, denn der träumt davon, ein Schwert zu schmieden, das sein Pflegekind Siegfried einmal nicht in Stücke haut. Nur Nothung, das Schwert, das Siegmund einst in Not retten sollte, und das Wotan selbst zerbrechen ließ, könnte der Kraft Siegfrieds standhalten. Mime aber weiß nicht, wie er die Stücke aneinander schweißen soll. Doch hofft er, dass Siegfried ihm einmal zum Nibelungenschatz verhelfen kann. Er hat sich um den bärenstarken Kerl gekümmert, nachdem seine Mutter Sieglinde bei der Geburt gestorben war. Siegfried aber weiß nichts von seiner Herkunft und dankt es Mime in keiner Weise, dass dieser ihn als Vater und Mutter zugleich großgezogen hat. Im Gegenteil: Er zwingt Mime, ihm seine wahre Herkunft zu erzählen. Als tastbare Beweise zeigt Mime dem Jüngling die zerbrochenen Stücke des Schwertes Nothung, die ihm seine Mutter als einziges Erbe hinterlassen hat. Mit dem Auftrag, diese Waffe neu zu schmieden, zieht Siegfried davon und lässt Mime mit einer unlösbaren Aufgabe zurück. Lange bleibt Mime nicht allein, denn der Wanderer sucht ihn auf, um ihn zu einer Wette zu verleiten; beide müssen drei Fragen beantworten. Wer fehlt, zahlt mit seinem Leben. Mühelos kann der Wanderer Mimes Fragen nach den Hierarchien der Welt beantworten. Die Chance, vielleicht zu erfahren, wer Nothung neu schmieden könnte, nutzt Mime nicht. Der Wanderer stellt diese Frage, doch Mime kennt die Antwort nicht. Sein Leben gehört jetzt dem Wanderer. Doch der löst das Rätsel selbst: Nur wer das Fürchten nie gelernt hat, kann Nothung neu schmieden. Und auch Mimes Kopf will er nicht haben, den überlässt er jenem furchtlosen Helden. Mime bleibt in einem Dilemma allein zurück: Um nicht von Siegfried getötet zu werden, muss er ihn das Fürchten lehren, doch erst muss Siegfried noch das Schwert schmieden und den in einen Drachen verwandelten Fafner töten, will er jemals Ring und Tarnhelm erhalten. Als Siegfried zurückkehrt und Nothung noch immer nicht geschmiedet ist, macht er sich endlich selbst an die Arbeit. Das Fürchten soll er dann vom schrecklichen Drachen lernen. Mime braut inzwischen einen Gifttrank. Nachdem der Drache überwunden ist, will er damit Siegfried betäuben und ihn mit seiner eigenen Waffe schlagen.

Zweiter Aufzug
Alberich wartet vor Fafners Höhle, dass der Drache sich endlich sehen lässt. Vom Wanderer erfährt er, dass sein Bruder Mime gemeinsam mit Siegfried auch auf dem Weg dorthin ist. Siegfried, der nichts von Ring und Gold weiß, könne, indem er den Drachen tötet, Alberichs Bruder zum Schatz verhelfen. Der Wanderer will Fafner warnen und weckt ihn auf. Alberich will ihn sogar verteidigen, wenn er ihm dafür den Ring überlässt. Doch auf diesen Vorschlag geht Fafner nicht ein. Liegen und Besitzen ist alles, was er will. Lachend macht sich der Wanderer wieder auf den Weg. Alberich aber verbirgt sich. Wie schrecklich Mime den Drachen auch beschreibt, noch immer fürchtet sich Siegfried nicht. Vielleicht bringen sie sich gegenseitig um, wenn sie aufeinander treffen, hofft der Zwerg und lässt den Jungen allein zurück. Siegfrieds Gedanken schweifen zu Vater und Mutter. Vielleicht kann ihm ein Vogel davon erzählen. Doch dessen Sprache bleibt ihm rätselhaft. Als er sein Horn zu Hilfe nimmt, weckt er damit den Drachen. Es kommt zum Kampf, den Siegfried natürlich gewinnt. Das brennende Blut des Biestes lässt Siegfried plötzlich die Sprache des Vogels verstehen. Tarnhelm und Ring solle er sich holen, dann würde er zum Walter der Welt. Kaum hat sich Siegfried danach auf die Suche gemacht, kommen Mime und Alberich aus ihren Verstecken, um darüber zu streiten, wer sich wie der Beute bemächtigen könne. Siegfried weiß nicht so recht, was er mit Tarnhelm und Ring anfangen soll, doch der Waldvogel warnt ihn zunächst vor den Nachstellungen seines Erziehers. Dessen wahre Gedanken könne er nun endlich verstehen. Und tatsächlich begreift Siegfried, dass Mime ihm nur nach dem Leben trachtet. Der Junge zögert nicht lange: einmal mit Nothung ausgeholt und schon muss Mime sein Leben lassen. Doch einsam ist es jetzt um Siegfried geworden. Weiß der Vogel für ihn keinen Spielgesellen? Auch hierfür hat der Vogel eine Antwort: Auf einem Felsen, von Feuer umringt, liegt Brünnhilde im Schlaf. Dorthin lässt Siegfried sich leiten.

Dritter Aufzug
Der Wanderer reißt die allwissende Erda aus ihrem Schlaf. Noch einmal will er ihren Rat. Doch Erda kann und will dem in seine eigene Geschichte all zu sehr verstrickten Gott keine Antwort geben. Der Wanderer muss Erdas Haltung akzeptieren. Ein neues Geschlecht aber wird die Welt vom Fluch des Rings erlösen, wenn er seine Macht abgegeben hat: Siegfried und Brünnhilde. So kann auch Erdas Wissen vergehen. Auf seinem Weg zu Brünnhilde begegnet Siegfried dem Wanderer. Vielleicht kann der ihm den genauen Weg weisen. Doch die vielen Fragen des alten Mannes ärgern ihn. Er soll antworten oder verschwinden. Da stellt sich der Wanderer Siegfried mit seinem Speer in den Weg. Schon einmal hätte der Speer Nothung, das Schwert, zersplittert. Jetzt aber schlägt Siegfried mit ihm den Gesetzesspeer Wotans in Stücke. Damit erweist er sich wirklich freier als der Gott und kann seinen Weg zu Brünnhilde fortsetzen. Hinter dem weichenden Feuer erkennt Siegfried eine schlafende Gestalt. Doch es ist kein Mann. Eine schlafende Frau lehrt den Jungen endlich das Fürchten. Damit er selbst erwache, muss er sie wachküssen. Freudig begrüßt Brünnhilde den Helden, der sie sofort leidenschaftlich begehrt. Doch auch Trauer und Scham kennzeichnen Brünnhilde, die nun keine Walküre mehr ist. Die Reinheit von Siegfrieds Liebe aber läßt sie ihre Angst überwinden. In wildem Liebesjubel umarmen sie sich, bewusst ihrer eigenen neuen Sterblichkeit. 

Werkeinführung

Richard Wagners Musikdrama »Siegfried«, der Zweite Tag aus dem Bühnenfestspiel »Der Ring des Nibelungen«, erzählt die Geschichte des Helden Siegfried: beginnend mit einer eindrücklichen Schmiedeszene bis hin zum himmlischen Duett zwischen Siegfried und Brünnhilde. Dramaturg Benedikt Stampfli erläutert Hintergründe zum Werk mit seiner gewaltigen symphonischen Partitur und zur eindrücklichen Inszenierung von Willy Decker.

Porträtzeichnung des Dramaturgen Benedikt Stampfli
Benedikt Stampfli, Dramaturg; Zeichnung Semperoper

Pausengespräch

Der Abschluss des Dresdner »Ring des Nibelungen« jährt sich 2023 zum 20. Mal. Regisseur Willy Decker blickt im Pausengespräch auf die Zeit der Inszenierungen der vier Opern 2002/03 und seine Konzeption von Wagners vielgestaltigem Werk zurück. Ein allumfassendes Welttheater nennt der renommierte, international arbeitende Regisseur die bekannteste Tetralogie der Operngeschichte, und berichtet von seiner Grundidee der Theater-auf-dem-Theater-Situation samt Theaterstuhlreihen und Guckkastenbühne und der unverminderten Aktualität der verhandelten Themen im »Ring«.

Das Gespräch fand am 5. Januar 2023 statt.

Portraitzeichnung des Regisseurs Willy Decker
Willy Decker, Regisseur; Zeichnung Semperoper nach einem Foto von Kirsten Neumann

Regiekonzept

»Held ohne Vater«

Regisseur Willy Decker zur Inszenierungskonzeption

Wagners »Siegfried« beginnt wie ein mühsames Aufwachen in einem dunklen Raum, ein fragendes, hilfloses Blinzeln an der Schwelle zwischen Traum und Wirklichkeit. Wo bin ich? ... Lebe ich noch? ... Die Partitur formuliert in den ersten Takten eine Frage, die, mehrmals wiederholt, in die Leere klingt: Wo ist der Ring? Wo sind die Wesen, die um den Ring gekämpft haben? Geht die Geschichte weiter? Wo stehen wir? Hier in der Mitte der Ring-Erzählung gibt es mehr Fragen als Antworten. Für Wagner selbst wurden während der Arbeit am »Siegfried« die Fragen immer drängender: offene, bedrückende Fragen, auf die Wagner zunehmend weniger Antworten hatte.

Alptraumhafte, tödliche Ruhe

Über Wotans Welttheater liegt Stille, die tödliche Ruhe des verlassenen Schlachtfelds nach dem Scheitern eines großen Planes: Nichts geschieht, die Welt liegt in der Erstarrung eines bewusstlosen Schlafs. Die einzige Bewegung ist das Herumwälzen des dummen Drachen, der sinnlos und schwer auf seinem Goldschatz schnarcht. So präsentiert sich uns das Vorspiel zu »Siegfried«. Am Ende der »Walküre« ist Wotans Reich zerbrochen, die Figuren des »Ring«-Theaters versprengt, in alle Winde zerstreut, auseinandergelaufen: Ergebnis eines verlorenen Krieges, den der Gott gegen alles Hemmende und Veraltete kämpfen wollte und an dessen Ende er sich selbst besiegte, indem er Siegmund mit dem eigenen Speer zerstörte, dem Symbol seines ungebrochenen Machtwillens. Wenn sich über »Siegfried« der Vorhang hebt, herrscht eine ähnliche Ruhe wie am Beginn von »Das Rheingold«. Aber es ist nicht die heitere, unschuldige, urharmonische Ruhe aus der Kindheit der Welt, sondern die alptraumhafte, tödliche Ruhe des Scheiterns, der Erschöpftheit und Ratlosigkeit. Alles schläft: Fafner auf seinem Gold, Brünnhilde auf ihrem Felsen, Mime wälzt sich in den Alpträumen des eigenen Versagens. Nur Wotan wacht, unruhig, einsam, unfähig und unwillig, das eigene Scheitern endgültig zu akzeptieren. Er muss das festgefahrene Rad des Welttheaterkarrens wieder anstoßen. Für Siegfrieds Auftritt schlägt er die Bühne wieder auf. Er hat die Kulissen gesetzt, ins Licht getaucht, alle äußeren Bedingungen für Siegfrieds Existenz vorbestimmt und erschaffen. Mime füllt den Knaben nun mit innerem Leben, indem er ihm, sorgfältig gefiltert, Begriffe, Ideen, ein streng eingeengtes Wissen eintrichtert, wobei das Wichtigere eigentlich das ist, was er ihm nicht beibringt. 

Missglückte Erziehung zum »neuen Menschen«

So hängt Siegfried wie eine tragikomische Marionette an den Fäden des Puppenspielers Wotan und wird an seinen Puppenbeinen von Mime gewaltsam nach unten auf die Erde gezogen. Vielleicht ist Siegfrieds größtes Problem und der Grund seines tragischen Scheiterns die Tatsache, dass sowohl Mime als auch Wotan ihm seine Vergangenheit vorenthalten. Er darf von der Vergangenheit nichts lernen, darf keine Vorbilder haben. Das ist es, was ihn verwundbar macht. Mit diesem erzwungenen Unwissen zerschellt er an der Wirklichkeit. Siegfrieds Selbstfindung missglückt, weil er ohne den Prozess von Emanzipation und bewusster Überwindung des Vergangenen, sozusagen durch Überspringen der Pubertät, zum Menschen, gar zu einem ganz neuen Menschen werden soll.

Die Geschichte von Siegfrieds Kindheit zeigt Parallelen zur Erziehungsidee in totalitären Systemen auf: von Eltern getrennt, ohne familiäre Identität, auf das Funktionieren innerhalb einer übergeordneten Idee hin heranzuwachsen. Diese Idee heißt hier: »Werde stark und töte den Drachen«. Nur das soll nach Mimes Willen der einzige Sinn und Zweck von Siegfrieds Leben sein. Danach kann man »dem Kind den Kopf abhau’n«. Auch Wotan will, dass Siegfried ohne Wissen um seine Vergangenheit, ohne Bindung an Familie und Wertsysteme heranwächst, um vielleicht seine große Idee doch noch zu verwirklichen. Die Überschrift lautet hier: »Werde stark und befreie die Welt vom Fluch des Rings«. Doch beide Ersatzväter Siegfrieds – Wotan und Mime – scheitern mit ihrem Erziehungsprojekt. Siegfried wächst ohne Liebe auf, eingehüllt in die tückische Scheinliebe Mimes. Sein selbsternannter Zwergenvater kann ihn nicht lieben und sein wirklicher, verborgener Göttervater Wotan darf ihn nicht lieben. Seit Wotan weiß, dass Siegfried nur zum neuen Heiden heranreifen kann, wenn er »nichts von mir weiß«, muss er sich jede tätige Liebe zum ersehnten Enkel versagen. Dieses Fehlen von Liebe ist der große taktische Fehler, das schwarze Loch, der tragische Irrtum im großen Erziehungsplan der ungleichen Väter Siegfrieds. Sehnsucht und Verlangen nach Liebe werden so übergroß, dass der junge Held auf dem Weg zum einzig möglichen Liebesobjekt die beiden Väter kurzerhand aus dem Weg räumt: den einen tötet er, den anderen schlägt er in Stücke. Der Wanderer muss ihm den Weg freigeben, der den geliebten, rebellischen Enkel zur geliebten abtrünnigen Tochter führen soll. Damit geschieht aber genau das, »was Wotan will!« und wogegen sich sein verborgener, nur scheinbar geläuterter Machtwille im letzten Moment noch einmal verzweifelt aufbäumt.

Das ungekürzte Essay finden Sie im Programmheft der Produktion

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