Dresdner Erinnerung an Harry Kupfer

Interview mit Jan Seeger, Technischer Direktor der Semperoper Dresden

Herr Seeger, Ihr Vater war ab 1960 Chefdramaturg an der Komischen Oper in Berlin, bevor er 1973 die Leitung der Staatsoper Dresden und dann ab 1979 die Leitung der Sächsischen Staatstheater übernahm. Horst Seeger hat sich in dieser Zeit nicht nur große Verdienste beim Wiederaufbau der kriegszerstörten Semperoper erworben, sondern Dresden verdankt ihm auch durch das Engagement großer Künstlerinnen und Künstler die nachhaltige Restitution der Sächsischen Staatsoper als Exzellenzspielstätte von Weltgeltung. Zwischen ihm und Harry Kupfer bestand eine enge Beziehung, die über die gemeinsame künstlerische Arbeit hinausging, und die Sie in Ihrer Dresdner Kindheit selbst miterleben durften. Sie selbst sind heute an der Semperoper tätig und dem Haus eng verbunden, zuerst seit 2003 als Leiter der Beleuchtung und ab 2009 in Ihrer Funktion als Technischer Direktor. 

Welches frühe Bild verbindet sich für Sie bei der Erinnerung an Harry Kupfer?

Jan Seeger Meine erste Erinnerung an Harry Kupfer ist sicherlich die private Freundschaft unserer beiden Familien, die gegenseitigen Besuche. Da erinnere ich mich vor allem an die gemeinsamen Silvesterabende, an denen wir zusammen Papierhüte gebastelt haben, und selbstverständlich an Harry Kupfers obligatorische Pfeife, die immer in seinem Mund steckte. Wir haben auch mit Kristiane Kupfer, die ein, zwei Jahre älter ist als ich, viel zusammen gespielt und Zeit verbracht. Das sind auch zugleich meine ersten persönlichen Erinnerungen an Dresden. Wir sind ja 1973 nach Dresden gezogen, wo Harry Kupfer bereits ein Jahr zuvor mit seiner Arbeit begonnen hatte. Es war sozusagen ein gemeinsamer Start.

Es bestand also eine durchaus enge persönliche Bindung zwischen Ihren beiden Familien, die entsprechend Ihre Dresdner Kindheit und Ihr Bild von Harry Kupfer früh geprägt hat. Wie hat sich Harry Kupfer Ihnen mit Ihrer starken Verbundenheit zur Semperoper als Künstler präsentiert?

Jan Seeger Mit ihm verbinde ich ganz klar der Begriff der »Felsenstein-Schule«. Ob ich ihn allerdings schon als ganz kleiner Junge in der Komischen Oper in Berlin getroffen habe, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, obwohl dies zu meinen ersten Theatererlebnissen zählt. Als Vierjähriger hinter der Bühne, auf der Seitenbühne, Felsensteins »Carmen«-Inszenierung und die Schmugglerszene ... Das sind ganz prägende Erinnerungen. Mein schon frühes Bild von Harry Kupfer ist aber geprägt von seinen bildgewaltigen Inszenierungen, die immer eine gute Idee, einen guten Ansatz hatten. Und er war, das ist auch ein wenig die Schule der DDR-Musiktheaterregie, wie auch bei Joachim Hertz zu sehen, immer bis auf die letzte Note perfekt vorbereitet. Es war niemals ein Zufallsprozess, es war genau gearbeitet am Auszug, am Text, an den Noten entlang. Kupfer hat das Werk bereits vorher fertig erschlossen gehabt, und das hat man den Inszenierungen auch gleich angemerkt.

Sie waren ja noch sehr jung, hat sich Ihnen diese künstlerische Position gleich so früh erschlossen?

Jan Seeger Ich habe 1982 hier die Lehre begonnen und seine Inszenierungen miterlebt. Als ich die letzten Tage darüber nachdachte, fielen mir sofort »Die Zauberflöte« und »Das Märchen vom Zaren Saltan« ein. Oder auch sein »Tannhäuser«. Das sind Erinnerungen, die ich an ihn als Regisseur habe. Für mich waren das perfekte Inszenierungen. Das hat sich für mich noch einmal bestätigt, als ich selbst 2005 »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« mit ihm geleuchtet habe.

Ihrem Vater, Horst Seeger, verdankte Dresden das Wirken großer Namen wie Regisseurin Ruth Berghaus, Dirigent Heribert Blomstedt und eben auch Harry Kuper, die in die Stadt gekommen sind, um hier zu arbeiten. Wie erklärt sich diese enge Beziehung zwischen Ihrem Vater und Harry Kupfer?

Jan Seeger Das beruhte wirklich auf Sympathie zwischen beiden. Mein Vater war, bevor er nach Dresden gekommen war, Chefdramaturg bei Felsenstein. Die beiden kannten sich also bereits aus Berlin. Ich glaube, der Gedanke, dass beide nach Dresden gekommen sind, war bereits dort entstanden. Ohne dass ich das jetzt beweisen könnte. Und was Kupfers Arbeit oder auch die Arbeit von beiden hier in Dresden ausmachte, war der absolute Wille in die Provinz zu gehen und dort gutes Theater zu machen. Das war schon bei uns Zuhause am Abendbrottisch immer ein Thema, dieses deprimierende Gefälle zwischen Berlin und allen anderen Städten in der DDR. Die Theaterdichte war ja damals genauso extrem wie heute. Aber auch große Städte wie Dresden, Leipzig, Rostock, sie alle hatten unter diesem Berlin-Drang gelitten. In der Hauptstadt waren die Gagen höher und man war halt nicht in der Provinz. Das hat den einen oder anderen Darsteller, Sänger, Regisseur oder Dirigenten sicherlich dazu verleitet nach Berlin zu gehen. Aber anderswo war das Theater auch avantgardistischer, moderner als in Berlin. Gerade Dresden war immer schon eine sehr theaterinteressierte Stadt. Mir ist in diesem Zusammenhang ein Satz meines Vaters in Erinnerung geblieben, dass es nur zwei Städte in Deutschland gäbe, in denen die Stadt mit dem Theater verbunden ist, nämlich Dresden und München.

Heute hat die Semperoper ihre Internationalität wiedergefunden. Wie war die Situation aus heutiger Sicht zu Zeiten der DDR?

Jan Seeger Ich glaube, der Bekanntheitsgrad und die Größe klangen noch aus der Vorkriegszeit nach. Klar, die Staatskapelle war da. Das war eine der treibenden Kräfte, die direkt nach dem Krieg wieder angefangen haben, im Kurhaus Bühlau oder anderen Locations in Dresden zu spielen und die sagten: »Wir müssen wieder musizieren«. Und aus meiner Sicht galt das auch für andere Künstler und Dirigenten, die sich um die künstlerische Neuaufstellung gekümmert haben, wenn ich an Otmar Suitner denke oder an Karl von Appen im Bereich Bühnenbild. Ab den 60er-Jahren gab es eine gewisse Reduzierung, bis dann eine Neubelebung mit zwei relativ jungen Leuten in leitenden Positionen einsetzte. Mein Vater war ja nur etwas älter als Harry Kupfer, also Jahrgang ’26, das heißt, beide um die Mitte 40. 

Wie kann man denn die künstlerische Linie Harry Kupfers in Dresden beschreiben? War das bereits typisch für seinen ganzen Werdegang, hat sich da etwas manifestiert für sein weiteres Schaffen oder war das in irgendeiner Form völlig neu?

Jan Seeger Naja, man kann nicht sagen Musiktheater im DDR-Sinne. Es war eher seine Art, Regietheater zu machen. Seine Linie war, sehr genau zu arbeiten. Und das ist ja das, was aus Felsensteins Zeiten kommt. Es war Gang und Gäbe, dass überall die Libretti ins Deutsche übersetzt und bearbeitet wurden fürs Musiktheater, damit die Leute verstehen, um was es geht. Halt so wie Felsenstein es gedacht hat, dem man gewiss nicht vorwerfen kann, dass er für die DDR Theater gemacht hat, sondern so, wie er für sich Theater verstanden hat.

Ehemalige Kolleginnen und Kollegen betonen das enge und gute Verhältnis, das Harry Kupfer stets gepflegt hat und loben seine Personenführung. Kann man das als außergewöhnlich bezeichnen?

Jan Seeger Ja, ähnliches ist mir gerade auch bei unserer »Hugenotten«-Produktion bei Peter Konwitschny aufgefallen. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass er genau wie Kupfer sauber arbeitet, jeden einzelnen miteinbezieht und in seinen Inszenierungen anspricht. Kupfer konnte das, weil er genauestens vorbereitet und klar durchdacht war. 

Ist das Ihrer Meinung nach eine andere Art von Regiearbeit, die sich von der heutigen unterscheidet oder ein Entwicklungsschritt zu einer anderen Vorgehensweise?

Jan Seeger Es ist eine andere Art Musiktheater oder Oper zu machen. Ob besser oder schlechter ist selbstverständlich subjektiv. Ich persönlich finde sie interessanter. 

Die heutige Genration stellt sich mit Blick auf die Historie die Frage, wie man sich aus den kulturpolitischen Vorgaben raushalten oder inwieweit sich eine solche Persönlichkeit wie Harry Kupfer künstlerisch in der DDR frei bewegen konnte?

Jan Seeger Raushalten ist da wohl der falsche Ausdruck. Man musste, wenn man ernsthaft interessiert war, professionell gegenhalten. Dieser Druck, die Beeinflussung von der SED-Bezirksleitung Kultur oder wem auch immer – das war ja nicht nur Berlin, sondern das kam direkt gegenüber von der anderen Straßenseite, dem heutigen Landtag, wo früher die SED Bezirksleitung saß – diesem Druck konnte man nur ehrlich begegnen, wenn man um der Sache willen Theater machen wollte und das fachlich konnte. Und das konnten, glaube ich, beide, mein Vater und Harry Kupfer. Das man in einem solchen System etwas ändern will, ist vielleicht zu hoch gegriffen. Diesen Ansatz haben sich die Menschen so nicht gestellt. Aber ich will nicht sagen, sie haben sich damit arrangiert. Denn sie haben sich vorgenommen, ihre Vorstellungen der Politik, der Diktatur gegenüber durchzusetzen. Wenn man erst auf einem bestimmten Level international etabliert war, dann war es für die DDR-Oberen umso schwerer zu intervenieren aus Angst, wie der Westen darauf reagiert. Und wie eine Diktatur auch gerne sich selbst genug ist, wurde versucht, daraus Gewinn abzuschöpfen oder sich in dem Glanz dessen, der für seine Arbeit international geschätzt wurde, zu sonnen. 

Gab es Beeinflussung von Seiten der DDR-Leitung?

Jan Seeger Inszenatorisch kann ich das nicht sagen und ich glaube das auch nicht. Aber es gab schon in die Intendanz hinein jeden Tag Beeinflussungsversuche, wie die Linie zu sein hat. Aber in der Auswahl der Stücke und auf das Regiekonzept würde ich aus meiner Erinnerung sagen, gab es keine Einflussnahme, da es ja auch, wenn man so will, avantgardistische Inszenierungen waren. Sicherlich gab es eine Zensur, eine finale Überprüfung. Aber im Entstehungsprozess selbst nicht. Die Freiheit haben sich beide schon genommen. Und was man zu den mehr künstlerischen Arbeiten bei Kupfer sagen muss, so war es natürlich die Aufgabe der Leitung, also meines Vaters, hier auch ein wenig zu schützen und abzufangen, was von der Politik kam. Da ist mehr in die Intendanz gedrungen, als auf der Bühne zu erleben war. Und immer gab es die große Diskussion, warum bekommt Berlin und nicht Dresden bestimmte Sänger, warum zahlt man dort andere Gagen und so weiter… Aber beiden ist es zumindest ein Stück weit gelungen, sich durchzusetzen und das Haus wieder international bekannt zu machen. Denn die Gastspiele, von denen es viele gab, haben ja mit den beiden erst ab 1974 wieder angefangen. 

In den Nachrufen auf Harry Kupfer wurde seine Dresdner Zeit eher nur gestreift, wo so eine lange Zeit an einem Haus doch auch eine wechselseitige Prägung bedeutet? 

Jan Seeger Richtig, immerhin war Dresden definitiv eine seiner wichtigsten Stationen zu DDR-Zeiten neben der Zeit an der Komischen Oper. Er hat hier seinen Stil entwickelt in dieser Zeit. Und dem ist er meiner Meinung nach treu geblieben. Was ich nach der Wende von ihm gesehen habe, sind vor allem seine Wagner-Auseinandersetzungen, also der Ring in Bayreuth und danach der Ring in der Lindenoper, und das ist immer genau die gleiche Handschrift geblieben. Bei Christine Mielitz ist es übrigens das gleiche, sie ist ja hier bei ihm Schülerin gewesen.

Wie war es denn für Sie, als Harry Kupfer später wieder an der Semperoper inszeniert hat, wenn man die fast familiäre, andererseits aber auch professionelle Situation betrachtet?

Jan Seeger Ich habe ihn zwischenzeitlich immer wieder getroffen, gerade als ich in Berlin Anfang der 90er-Jahre studiert habe. Und meine Eltern ja eh. Meine Mutter hat nach dem Tod meines Vaters den Kontakt zu Marianne Kupfer stets aufrechterhalten. Seine Frau war in gewisser Weise das Familienoberhaupt und hat alles gemanagt und ihm im Hintergrund den Rücken freigehalten. Als Harry Kupfer dann nach Dresden für Mahagonny kam, war es für die Leute im Haus, als wenn jemand zurückkommt, der zur Familie gehört. Jemand, der für seine gute Arbeit geachtet wird, an den sich jeder gern erinnert und so herzlich aufgenommen wird, als wären er nur mal eine Weile weggewesen. So hab ich das damals erlebt.

Ist das eine Form des Respekts, der ihm entgegengebracht wurde? Angesichts der heutigen »Metoo«-Diskussion begegnet man sich in der Theaterlandschaft zum Teil ja eher angstvoll ...

Jan Seeger Auf jeden Fall. Es war einfach seine Professionalität, die ihm Respekt eingebracht hat. Man konnte immer mit ihm Argumente austauschen, und er hat dabei das Gegenüber auf Augenhöhe betrachtet. Also genau das, was gegenseitigen Respekt ausmacht. Er hat die Leute ernst genommen und war wirklich der ganz festen Überzeugung, dass Theater nur gemeinsam geht und jeder seine Aufgabe hat. 

Was war denn Ihre Lieblingsinszenierung, beziehungsweise die ihres Vaters?

Jan Seeger Mein Vater war ja großer Mozartfan im Gegensatz zu mir. Aber in Bezug auf Harry Kupfer komme ich immer wieder auf Mozarts Zauberflöte zurück. Die Idee, die Handlung in die Ruine der Semperoper zu versetzen, wo die drei Knaben durch den Schutt klettern, und dann auf einmal das Spiel auf der Bühne beginnt und die Oper wieder anfängt zu leben … Das war schon irgendwie genial gedacht. Zumal Kupfer ja wusste, dass die Vorbereitung der Semperoper-Wiedereröffnung ansteht und die Inszenierung in das neu aufgebaute Opernhaus übernommen wird. So naheliegend der Ansatz, aber super erdacht und gelöst. Ansonsten bin ich eher Richard Strauss-Fan. Meine Lieblingsinszenierungen von ihm sind die »Elektra« und »Der Rosenkavalier«. Beide sehr konträre Opern. Aber ihm gelang es immer, aus der Musik heraus ein bestimmtes Lebensgefühl herauszukitzeln. Ob melancholisch oder positiv sei dahingestellt. 

Macht sich Ihrer Meinung nach ein Unterschied zu den späteren Inszenierungen bemerkbar, eine Altersweisheit oder Gelassenheit?

Jan Seeger Nein, Kupfer ist immer ohne Verstellung der Mensch geblieben, der er war. Das lag aber auch daran, dass er fest in sich geruht hat und wusste, was er wollte. Im Alter gibt es natürlich gedankliche Veränderungen und man setzt andere Prioritäten. So wie bei seinen beiden Ring-Inszenierungen ersichtlich, die ich mir in letzter Zeit öfter angesehen habe. Aber als Künstler hat er keinen anderen Weg eingeschlagen. 

Die heutige gesellschaftliche Diskussion um die Aufarbeitung der Darstellenden Künste aus DDR-Zeiten tut sich schwer mit einer Einordnung. Gilt das auch für das Musiktheater, mal abgesehen von international anerkannten Kunstschaffenden wie zum Beispiel die jüngst verstorbenen Künstler Harry Kupfer, Peter Schreier oder Theo Adam?

Jan Seeger Das hängt aber vielleicht auch mit dem Ruf zusammen, den einige wenige Künstler erreicht haben. Man kann das sicherlich nicht verallgemeinern. Das hängt auch von der Größe und dem Bekanntheitsgrad ab und wie man in der Welt bereits akzeptiert ist.   

Das Musiktheater verändert sich. Gehört diese Charakterausprägung, von der im Zusammenhang mit Harry Kupfer gesprochen wird, einer anderen künstlerischen Epoche Zeit an?

Jan Seeger Der Stil Harry Kupfers kommt immer wieder auch bei anderen Regisseuren hervor. Zum Beispiel bei Keith Warner, auch wenn der ein ganz anderer Typ als Harry Kupfer ist. Aber in Bezug auf die Genauigkeit, auf das Vorbereitet Sein gibt es Parallelen. In der Hauptsache erleben wir aber eher Inszenierungen, die aus dem work-in-progress entstehen. Von Regisseuren, die nicht nur von der Musik her arbeiten, sondern eher am Drama, an der Story. Kupfers Stil ist nicht ganz verloren, aber in der neuen Regiegeneration spiegelt der sich nicht so stark wider.

Fehlt dem Musiktheater ein Harry Kupfer heute?

Jan Seeger Meiner Meinung nach, gewiss. Ich persönlich würde mich über mehr Harry Kupfer im Regietheater freuen in Bezug auf die Genauigkeit, den Bezug auf die Musik und den Umgang mit dem ganzen Musiktheater.

Und fehlt Ihnen persönlich der Mensch Harry Kupfer?

Jan Seeger Ja schon. Bei solch einer traurigen Nachricht fängt man an, in seinen eigenen Erinnerungen zu kramen. Und ich kann sagen, dass Harry Kupfer mir als Mensch fehlt. 

Das Interview führte Oliver Bernau im Januar 2020